S I X H A V E N



Da soll es reingehen? In diese mickrige Einfahrt? Und das soll dann einer der beliebtesten Häfen Europas sein? Kaum vorstellbar, aber der Schriftzug auf dem altersschwachen Wellenbrecher ist eindeutig: "WSV de Sixhaven" steht dort zu lesen.



Also muss er da sein, der berühmte Hafen im Herzen Amsterdams. Der, den jeder Segler in Holland kennt und den schon viele auf dem Weg aus Nord- oder Ostsee gen Ärmelkanal fahrende Segler besucht haben. Vorsichtig tastet sich die Rudergängerin hinein. Erst hat sie Zwefel, ob wir reinpassen. Ist das ein Tor für Laubenpieper? Eng ist es in der Einfahrt, sie blickt nach oben, um mit dem Rigg nicht in den Bäumen hängen zu bleiben. Und pompt stoppt die andere Yacht vor ihr.
Aber wir sind drin und haben das Nadelöhr gemeistert. Es wird noch enger. Keine Zeit zum Durchatmen. Wasserflächen sind Mangelware im Hafenbecken. Umdrehen? Unmöglich! Überall liegen Booe. Große und kleine, neue und alte, voll bepackte für lange Reisen oder auch nur solche, die für ein langes Wochenende gerüstet sind. Auf Anhieb wissen wir gar nicht, wo man hinschauen soll. Ein maritimes Kaleidoskop. Die Nationalen an den Hecks deuten auf einen Durchreisehafen hin. Von Finnland über Polen und Frankreich bis Spanien ist alles dabei und natürlich "Oranje Boven" oder der "Adenauer".

Ein schriller Pfiff ertönt. Ein älterer Herr ruft Anweisungen herüber. Manchmal ist es auch eine Dame, die für Ordnung sorgt, je nachdem, welcher Freiwillige aus dem Club gerade den Hafenmeister gibt. Auf einem klapprigen und selbstredend orangefarbenen Fahrrad braust der Mann nun den Steg entlang, um möglichst nah an die einfahrende Yacht zu gelangen. Seine Dienstkleidung, weißes Polo und Skippermütze mit der Aufschrift "Sixhaven", verleiht das Recht zum Radfahren auf den Stegen und zum Anweisungen-Geben. Er versucht in der Sprache des Gastes zu kommunizieren, was angesichts der Internationalität der hier vorbeischauenden Crews nicht immer einfach ist. Liegeplatzoptionen: "Ganz vorne links ist noch eine kleine Box, die kannst du nehmen." Oder auch: "Mit Kind? Dann direkt vor die kleine Brücke neben dem Spielplatz. Dann kannst du vom Cockpit aus sehen, was Sache ist."
Das Ziel: Möglichst viele volle Reihen beim Boots-Tetris. Schließlich bringen viele Schiffe im Hafen die Vereinskasse ordentlich zum Klingeln.

Sind alle Boxen belegt, werden kurzerhand die Wasserflächen zwischen den Stegen zu Liegeplätzen deklariert. Ganz zum Schluss ist die Hafeneinfahrt dran. Erst wenn vor lauter Booten kein Wasser mehr zu sehen ist, wird die Durchfahrt mit einer Kette abgesperrt. Das passiert im Sommer öfter mal.
Wer dann zu später Stunde etwa nach einer nächtlichen Durchfahrt durch Amsterdam, auf der "Staande Mast Route" ankommt, wird abgewiesen. Nicht aus Bosheit, sondern weil wirklich kein Platz mehr frei ist. Der Sixhaven jedoch bleibt das Herz der maritimen Welt in Amsterdam.
Schon 1920 wurde er gegründet. Damals war man noch königlich und ein Segel- und Ruderverein. Benannt wurde das Ganze nach dem damaligen Vorsitzenden, dem der Hafen gehörte, einem gewissen Herrn Six. Nach dem Krieg fühlten sich die Königlichen aber offenbar nicht mehr wohl im bourgeoisen Amsterdam. Sie zogen um ins nahe Muiden, weg aus der in jenen Jahren noch wenig erbaulichen Metropole.
Übrig blieb ein Becken, das der Rijkswaterstaat zunächst als Arbeitshafen nutzte, als der Autobahntunnel unter dem Fluss Ij gebaut wurde. Danach verwahrloste der Hafen etwas und dann - typisch Amsterdam - fanden sich bald darauf erste Hausboote im Sixhaven ein. Die unklaren Eigentumsverhältnisse galt es zu nutzen.

Erst 1974 übernahmen die Betriebssportgruppe Segeln der Nederlandsche Scheepsbouw Maaatschappij (NDSM), einst die größte Werft Europas, den Hafen. Die Werft lag gleich nebenan, sodass man nach Feierabend mal eben am Boot vorbeischauen konnte. Die Schiffbauer machen das Terrain zu dem, was es heute ist: eine gemütliche Steganlage mitten in Amsterdam, die internationales Flair ausstrahlt.

Es folgte der Niedergang der Werft und damit viele Frühruheständler, die sich um ihren Hafen kümmern konnten und wollten. Das sieht man dem Gelände an. Ein Kleinod mitten in der Urbanität.
Wer vom Sixhaven in die Stadt will - und das sind eigentlich alle - kein Problem! In nicht einmal 5 Minuten steht man im Zentrum. Denn gleich neben dem Hafenareal startet die kostenlose Fähre zum vis-à-vis liegenden Hauptbahnhof.

Der Hafenmeister hat natürlich jede Mene Tipps parat, was es in Amsterdam zu tun und zu entdecken gibt. Seine Vorschläge variieren etwas, je nach Art der Crew. Und weil es für viele Segler etwas später wird in Amsterdam, gibt es im Sixhaven zwei eiserne Regeln:
Vergiss nie den Code des Tores am Eingang zum Gelände.
Und: Um 12h mittags fängt der neue Tag an, dann muss neu bezahlt werden.
Folglich kommt um kurz vor zwölf eines jeden Tages ordentlich Bewegung in das Bootknäuel. "Wollt ihr weg?" "Nein, wir bleiben noch" "O. K. Dann fahr doch mal raus, drehe eine Runde und komm wieder rein, wenn ich weg bin". Solche und ähnliche Absprachen sind hier gang und gäbe.

Glücklich, wer in einer Box liegt und sich das Spektakel in Ruhe ansehen kann. Pünktlich zum zweiten Frühstück. Konzertantes Bootsballett auf engstem Raum, dirigiert vom Hafenmeister. Dann wird geschoben und gedrückt. Motoren angeworfen, Bootshaken in Position gebracht - als ginge es um einen Ritterwettstreit. Aber alles geht auch irgendwie gelassen vor sich. Eben wie Amsterdam so ist: alle zusammen und mit Rücksicht.
So gehts in die Stadt: Irgendwann ist der gordische Knoten entwirrt, es kehrt Ruhe für kurze Zeit ein. Wasser wird sichbar im Hafen. Bis die neuen Gäste kommen. Einer nach dem anderen, ganz vorsichtig. Und bis eine neue Runde beginnt beim Boots-Tetris.

Wer solcherlei Enge und so viel Nähe nicht mag, der ist falsch im Sixhaven. Im Schnitt machen täglich 50 Gastyachten fast das ganze Jahr über im Sixhaven fest; Amsterdam hat durchgehend Konjunktur. Etwa 20 bis 25 € kostet die Nacht. Das sollte dem Club mithin einen gewissen Wohlstand bescheren. Der sei ihm gegönnt, denn solch ein kleines Unternehmen derart professionell auf Basis von Ehrenamtlichen zu organisieren, ist schon beachtlich.
Bei denen handelt es sich übrigens immer noch häufig um ehemalige Schiffsbauer von der Werft. Viele haben ihre Boote selbst gebaut und zwar im Dock des Sixhavens. Entsprechend groß und gut ausgerüstet ist die Werkstatt im Clubhaus.
Doch nicht nur zum Liegen und Arbeiten ist der Sixhaven gut. Ganz in der Nähe, nur wenige 100 m entfernt, befindet sich ein Supermarkt und diverse Fachgeschäfte. Einkaufen oder durch das spannende Amsterdam-Noord schlendern, alles geht.
Dieser Stadtteil hat eine erstaunliche Entwicklung hingelegt. Während die Gentrifizierung den Süden, Osten und Westen Reiz nahezu unbewohnbar für Normalverdiener gemacht hat, geht das in Noord durchaus noch. Einzelhändler, kleine Läden, Werkstätten, Restaurants, Kultureinrichtungen. Der Musiksender MTV, das Filmmuseum Eye prangt mit seiner eindrücklichen Architektur nur wenige Meter neben dem Hafen.

Nach getanem Stadtrundgang versammelt man sich auf der Terrasse des Clubheims, von dort lässt sich das Ij bestens überblicken. Ebenso wie der gesamte Hafen. Schiffe kommen und gehen, und neben einem sitzt ein Norweger auf dem Weg zur ARC, der dem Engländer auf dem Weg in die Ostsee erklärt, wo in Holland welche Brücke wann bedient wird. Das ist einzigartig. So, wie der ganze Sixhaven und seine Leute mitten in Amsterdam.

nach Yacht 2018 Nr. 11



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© Christian Wirth 2018