96 ff. und Zweiter Gesang
Athene fliegt über Meere und Berge nach Ithaka und wartet in der Maske eines Sterblichen am Tor des Palastes, schaut dem Treiben der Freier Penelopes zu.
Ein einziger nur sitzt traurig dabei, mit bekümmerter Miene und schämt sich sehr, daß der Gastfreund so lange am Tore verweilt. Eilig springt er herbei, und die Göttin begrüßt ihn freundlich; denn sie hat schon lange erkannt, daß es Telemach ist, der Sohn des Odysseus. Mit finsterer Miene deutet er auf die Freier: „Fremdling, beachte sie nicht. Sie singen und spielen und verprassen die Güter des Mannes, der irgendwo in der Weite der Welt, auf dem Grunde des Meeres oder den Klippen eines Gestades liegt: Regen und Wellen netzen seine Gebeine, und die Sonne dörrt seine Knochen. Doch käme er einmal zurück . . . dann wahrlich würden sich alle lieber hurtige Füße erflehen als Kleider und Gold."
Athene fährt mit der Hand sanft durch sein Haar und erzählt: „Ich heiße Mentes, bin König im Taphierland. Die Himmlischen senden mich zu dir, um dich zu trösten. Denn noch lebt Odysseus, und es wird nicht lange mehr währen, bis er heimkehrt ins Land seiner Väter. Du aber mache dich auf und suche ihn allüberall, bei Nestor in Pylos und bei Menelaos zu Sparta. Die Zeit deiner Kindheit ist nun vorüber, du bist ein Mann, Odysseus' Augen ruhen auf dir."

So senkt Athene Mut in Telemachs Seele, erweckt des Vaters Gedächtnis in ihm und fliegt wie ein Vogel zum Himmel zurück.
Da ahnt der Sohn den Beistand der Göttin - auch Penelope spürt es staunend: als der Sänger unten im Hause die Geschichten von Troja erzählt und sie, von Sehnsucht ergriffen, zu weinen beginnt, bittet der Sohn, nicht zu klagen, sondern schickt sie zurück in die Kammer, um dort mit den Mägden zu spinnen: das hat er noch niemals getan. Telemach aber liegt die ganze Nacht schlaflos und bedenkt die Worte der Göttin. Am anderen Morgen ruft er das Volk zur Versammlung, Athene umgibt seine Schultern mit leuchtendem Glanz. Klagend beschreibt der Sohn des Odysseus die Freveltaten der Freier, die eigene Ohnmacht und das elende Los seines Vaters. Mit Tränen im Auge wirft er sein Szepter zur Erde; Mitleid erfaßt das Volk, die Freier schweigen verstört. Endlich ermannt sich einer der Fürsten - Antinoos - und murrt: „Längst schon wären wir Freier von dannen gezogen, hätte uns nicht Penelope mit trugreichen Ränken vertröstet. Drei Jahre schon macht sie uns Hoffnung, zieht einmal diesen, einmal jenen vor und behauptet, sie könne nicht eher sich binden, bis das Gewand vollendet sei, das Leichentuch für Laertes.

Seit vierzig Monden webt sie an diesem Gewand: tags schreitet sie rüstig voran, doch nachts macht sie alles zunichte und trennt das Gewebe auf. Eine Magd hat es uns verraten. Schilt also nicht uns, Telemach, sondern die Mutter. Odysseus ist tot, sie möge sich endlich entscheiden."
Telemach lobt Penelopes List und bittet Zeus, ihm ein Zeichen zu senden. Da fliegen zwei Adler herbei mit gesträubtem Gefieder und krächzenden Stimmen; zornig zerreissen sie sich den Hals, stoßen mit schlagenden Flügeln zum Marktplatz hinab. „Wehe den Freiern!" schreit Halitherses, der Seher, „ganz in der Nähe wartet Odysseus und rüstet sich schon, den Frevlern Tod und Verderben zu bringen!"
Erschrocken verstummt die Menge, denn jeder erinnert sich: Halitherses hat vor langer Zeit geweissagt, Odysseus werde im 20. Jahr wieder nach Ithaka kommen. Doch die Freier heißen den Seher Lügner und Gaukler, beschimpfen den Sohn des Odysseus als Prahlhans und Narr. Telemach steigt zum Meer hinab und erfleht die Gnade Athenes. Da verkündet die Göttin dem tapferen Kind das Ende der Freier und geleitet es mit dem Schiff hinaus auf die Weite der See, den Vater zu suchen - wie in Dublin Stephen Dedalus Leopold Bloom.

Fortsetzung



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