Hans Jürgen von der Wense


Wer von Westen aus nach Warnemünde will, passiert vor Wustrow eine Heulboje. Nach der so genannten Wende gehen Segler am Alten Strom längseits, meist nahe bei Fischkuttern, die im Strom der Touristen aus den so genannten Alten bzw. Gebrauchten Bundesländern Kunden für den frischen Fang fischen.
Kommt ein am Dialekt erkennbarer Hesse aus Treysa, wer kennt hier unsre Schwalm? zu uns, erkundigt sich nach dem Woher und Wohin, er sei auch mal Segler gewesen, die Frau wolle nicht mehr so recht, er habe sich aufs Wohnmobilreisen verlegt, was dem Fahrtensegeln ähnlich sei. Er sei Secret Agent in Sachen Literatur, habe Botho Straußens Traum einer Geschichte der geheimen Literatur im Sinn. Hier in Warnemünde habe ein Kandidat für das Kompendium gelebt.

Wir rollen, wir rasen und alles ist Rad, deklamiert unvermittelt der Agent.
Schnell, schau dir alles an, numeriere es, registriere es, nämlich zunächst:
erkenne es an, dann: erkenne es! und -
es ist dein, es gehört dir und viel mehr noch:
du bist es ja selbst!
Ich sage ein Rausch wird dich überkommen,
eine Wollust von Liebe
und Grauen, aber nur ganz kurz und nur einmal, nie wieder.
Von Stund an hast du
einen Stab in der Hand
und siehst die Dinge als Ausblühungen der deliranten Weltphantasie.

Hat der folgende Text nicht Jean-Paulsche Züge, als Christus vom Weltgebäude herab Gott leugnet?
Auf meinem letzten Wege, schon vor Monaten: ich trat aus dem Walde und sah gegen eine wahrhaft furchtbare sargschwarze Wand, darin die Mäander- und Schlangenbahnen der Blitze. In der schon fortgezogenen Wolken- und Wetterdecke erschien eine böse, mordrote Gorgo, die Sonne, ohne tröstende Strahlen, wie gegorenes Feuer, erloschen.
Vom Hagel verdammt und gesteinigt.
Und über mir der Mond sprang durch die Wolken dahin,
wie flüchtiges Wild, hinter Felsen sich bergend.
Ich stieg zu Tal, in den lauten Tag der Menschen -
zum Leben verurteilt.

Er zog von Berlin nach Warnemünde, erzählt der Geheimagent, bricht alle Brücken hinter sich ab, fordert Abschaffung der Musik, verwirrt in Donaueschingen seine Anhänger mit neuen, primitivistischen Kompositionen und schreibt:
Ich bin gekommen, um ihnen das Schwert zu bringen.
Ich oder Ihr. Einer muss fallen.

In einem Brief vom Konzert des lokalen Gesangsvereins Heulboje,, den ich gerade aufgesucht habe, schreibt Wense:
Es war wirklich ein Konzert, das ich genoss.
In Berlin gibt es jetzt Mahlers 7., und ich lese das ohne Neid. Was ist Berlin - eine große Stadt - ein großes Armenhaus.
Ich halte es mit der Heulboje.

Er übersetzt Volkslieder und Dichtungen abgelegenster ozeanischer und amazonischer Völker, schildert die Bräuche vor Ort:

Nachts stellen die Eingeborenen kleine Eimer vor die Häuser. Dies ist betrachtungswürdig. Ich sehnte mich nach dem Meer, nach zerschlagenen Lichtern, nach einer nur waagerechten und gespannten Ferne - und da geschah es, irgendwo vom Zuge aus, ich ging auf den Closett und da sah ich ein Ungeheuer, etwas Furchtbares.
Es war das erste Mal, dass ich mit einer Sache nicht fertig wurde, die mich überbot.

Es war nicht der Klabautermann, es war der Desenberg. Hans Jürgen von der Wense schreibt auf Messtischblätter. Verändert die Leserichtung des Textes zugunsten der Textgestalt, verwandelt nicht Landschaft literarisch in Text, er legt seinen Text auf Landschaft, hoffend, ein plausibleres Abbild von dem, was ihm vor Ort widerfährt, zu bekommen... Der Agent hält eine seltsame Kopie hin.

In Diemarden ist er begraben. Den Naziterror nennt Wense übrigens das traurigste Kapitel in der Geschichte der Geisteskrankheiten.
Bruce Chatwin wesensverwandt schreibt Jürgen:
Meine Leiden als Kind. Gehetzt, ins Dickicht getrieben wie ein Wild,
gepeitscht, gestoßen, beschrien, meine Bilder in den Schmutz geworfen,
meine Noten zerrissen …
Jede Nacht im Café des Westens. Else Lasker. Verdorbene Phantasten.
Das ist die Jugend, in der ich jung bin! Raus, raus! ...
Niemals zurück in diese Cafés! Etwas ganz Neues will ich beginnen.
Ich werde Jurist,
schreibt sich bei der Juristischen Fakultät ein, studiert 14 Tage
Ich wohne nun mit Mutter zusammen.
Sie ist glücklich, ich aber habe Angst. Ich möchte in den Tiergarten gehen und nie wiederkommen. Hedwig meint, mein ganzes Leben sei verdrängte Sexualität. Ich inventarisiere die Schöpfung, hinterließ 315 nach Sachgebieten geordnete Mappen, etwa 40.000 doppelseitig beschriebene Blätter. Notizen, Ausrisse, Tagebucheintragungen, Kommentare, Briefe. Mein Werk! Mein Werk wurde nie fertig. Ich bin simultan.

Vertraulich – Persönlich:
Verschlußbibliographie (Auszug, Erscheinungsjahr streng geheim)
Blumen blühen auf Befehl - Aus dem Poesiealbum eines zeitunglesenden Volksgenossen 1933-1944
Geschichte einer Jugend
Aphorismensammlung
Wanderbuch
All-Buch
Klavierstücke
Weltgeschichte des Wetters
Erdbebenkatalog
Musik für Klavier
Musik für Gesang
Musik für Klarinette, Klavier und freihängendes Blechsieb
Einladung:
20.00 Uhr:
Empfang des Oberbürgermeisters der Hansestadt Greifswald, Herrn Jürgen von der Wense

Hans Jürgen von der Wense, 1894 bis 1966, Schriftsteller, Übersetzer, Komponist, Meteorologe, Ethnologe, Historiker, Geologe, Heimatforscher, Universalgelehrter. Weitgehend unbekannt, eigenwilligste literarische und universelle Persönlichkeit des Jahrhunderts, Quergeist, multiples Genie:
Von Aas bis Luxuskraftwagen. Von Mandarinenten bis Zylinder.





Im Januar 1919, er steckt inmitten der Revolution in Berlin, hört er die Baßtuben der Kanonen, Xylophone der MG's und Pauken der Handgranaten und sah die Spaltung der Linken, Sozialdemokraten und Bolschewiken nebeneinander oder gar gegeneinander: In der Wilhelmstraße Scheide-Männer, in der Sieges-Allee die Lieb-Knechte. Adlon vergittert. Ich ging Zeitungen lesen ins Café. Eine Bombe knallt herein. Glas, Marmor und Blut. Drei Tote. Die meisten blieben sitzen. Einer neben mir, schmatzend, stößt mit dem Fuß etwas Klebriges - wohl Gehirn - beiseite, ruft: ‚Ober! Nehmen Sie mal den Dreck hier weg, das inkommodiert mich.'
In isländischen Sagen entdeckte Wense "Revolutionsmanifeste":
Der erste Bolschewist, der erste Liebknecht war Grettir, war Egil.