Unser Held und Verbrecher

Dreißig Jahre nach Titos Tod: Wer war dieser Mann?

Wenn ich mir das Paradies auf Erden vorstelle, dann ist es eine kleine, verlassene Insel mit Pinienbäumen und Kieselstränden mitten in einem türkisblauen Meer. Genau so eine, wie ich sie vor kurzem sah, als ich in der nördlichen Adria nahe Pula auf einem kleinen Boot zu den Brijuni-Inseln reiste. Josip Broz Tito muss die gleiche Idee gehabt haben, als er die Inseln 1947 das erste Mal besuchte. Der Unterschied zwischen ihm und mir besteht aber darin, dass das Leben in diesem Paradies auf Erden für ihn Wirklichkeit wurde. Es dauerte damals nicht lange, bis der Präsident der Republik Jugoslawien eine neugebaute Residenz auf Vanga, einer der vierzehn Inseln, bezog. Nach ihm hatte niemand mehr die Gelegenheit, den Traum wahr werden zu lassen. Normalsterbliche konnten die Inseln nicht einmal mehr besuchen. Man sagt, die Überwachung dort sei so intensiv gewesen, dass Fazana, ein Fischerdorf auf dem Festland direkt gegenüber der Inselgruppe, nur von Geheimagenten und deren Familien bevölkert gewesen sei.
Tito starb im Jahr 1980. Danach wurden die Brijuni-Inseln zum Naturschutzgebiet ernannt. Auf meiner Reise erfuhr ich, dass es Tito während der gut drei Jahrzehnte, in denen er die Privilegien des Lebens hier genoss, gelang, in jedem Jahr vier Monate auf Vanga und Veli Brijun zu verbringen, den Inseln, die er am meisten liebte.
In einer Fotoausstellung, die im Jahr 1984 im ersten Stock des Heimatmuseums eingerichtet worden war, erfuhr ich alles über sein Leben dort. Auf Hunderten von sepiafarbenen Fotos sah ich ihn sowohl in seiner Rolle als Staatsoberhaupt mit wichtigen Besuchern als auch in privaten Situationen. Ich sah, dass sich Tito während seiner Monate im Paradies nicht nur erholte. Er verbrachte seine Ferien auch arbeitend - als Staatschef, Chef der Kommunistischen Partei und Oberbefehlshaber der Armee. Zugleich empfing er eine Vielzahl bedeutender Menschen: von Fidel Castro bis zur Queen, von Indira Gandhi bis zu Willy Brandt, von Leonid Breschnew bis zum persischen Schah Resa Pahlawi. Stars faszinierten Tito. Viele berühmte Persönlichkeiten, der Opernsänger Mario del Monaco oder Valentina Tereschkowa, die erste Frau im All, wurden nach Brijuni eingeladen. Aber am meisten gefielen ihm die Besuche von Filmstars wie Elizabeth Taylor und Sophia Loren. Während diese Ausstellung einem ausländischen Besucher bizarr erscheinen muss, versetzte sie mich zurück in meine Kindheit.
Ihn zum Beispiel auf einem Foto in seinem Obstgarten zu sehen, wie er Mandarinen erntet, erinnert mich daran, dass uns unsere Lehrerin immer erzählt hatte, dass er diese Mandarinen an Waisenhäuser schickte - dieser gutherzige Mann, pflegte sie hinzuzufügen. Wir Kinder konnten nur versuchen, uns einzubilden, wie himmlisch diese Früchte wohl schmecken müssten, weil es zu dieser Zeit in Jugoslawien keine Mandarinen zu kaufen gab.
Im Erdgeschoss des Museums gibt es eine weitere Ausstellung über Tito - noch skurriler. Sie widmet sich seinen Tieren. Eine Zeitlang war es üblich, dass Staatsgäste ihm als Geschenk wilde, exotische Tiere mitbrachten. Meist konnten sie sich nicht dem Klima anpassen und starben. Dann wurden sie ausgestopft und ausgestellt. Während man Tito im oberen Stockwerk noch mit einem Baby-Orang-Utan spielen sah, kann man unten den ausgestopftem Körper des beklagenswerten Tieres betrachten. Das Foto, auf dem Tito einen jungen Leoparden liebkost, hat der Besucher noch in Erinnerung, wenn ihn derselbe Leopard dann mit Glasaugen anstarrt. Obwohl das wahrscheinlich nicht beabsichtigt war, schaffen die ausgestopften Tiere einen unbehaglichen morbiden Kontrast zu der Glorifizierung, die sich im oberen Stockwerk abspielt - fast sind sie eine Metapher für Titos Herrschaft.
Die 25 Jahre alte Fotoausstellung zu Titos Leben und Werk auf Brijuni ist nur ein kleiner Beitrag zum Personenkult, den die Menschen in Jugoslawien aufbauten. Aber es gibt - neben der Glorifizierung - noch andere Annäherungsversuche, die sporadisch an die Oberfläche gelangen. In Belgrad und in Zagreb ist kürzlich ein Buch über Tito erschienen, das versucht, zu beweisen, dass auch diese verehrungswürdige Figur keineswegs frei von Makeln war. „Tito - a phenomenon of the Century" ist geschrieben vom Belgrader Journalist Pero Simic, der sich seit Jahrzehnten mit Tito beschäftigt. Ein früheres Buch handelt von kompromittierenden Dokumenten, die er in den Stalin-Archiven in Moskau gefunden hatte. Das jüngste Buch über Tito hingegen ist eine Art „was Du schon immer über Tito wissen wolltest, Dich aber nie zu fragen getraut hast". Simic enthüllt dem Leser Halbgeheimnisse und Geheimnisse aus Titos Leben. Fast der ganze Text besteht aus Zitaten. Der Autor führt dabei sowohl private wie offizielle Quellen an. Kommentare oder Interpretationen liefert er kaum. Titos Leben bleibt ein Rätsel. Nicht einmal Titos genauer Geburtstag ist bekannt: Simic fand fünfzehn verschiedene Daten!
Auf ähnliche Schwierigkeiten stößt man, wenn man nach Titos wirklichem Namen und nach dem Namen seines Vaters sucht. Auch gibt es keine gesicherten Daten zu seiner Ausbildung. Es ist nicht klar, mit was für einem Abschluss er die Berufsschule verließ, falls er überhaupt einen gemacht hatte. Es ist unbekannt, wo genau er arbeitete und für wie lang. So reiht sich eine Ungewissheit an die nächste. Allerdings werden in diesem Buch zum erste Mal einige Dokumente aus seiner Zeit als Kadermitglied der Komintern (Kommunistischen Internationale) in Moskau offengelegt. Offenbar hatte sich Tito den Weg an die Spitze freigeräumt, indem er seine Kameraden ausspionierte, worauf einige von ihnen exekutiert wurden. Als er die Kommunistische Partei in Jugoslawien übernahm, scheint er, so Simic, ebenfalls auf sehr suspekte Weise vorgegangen zu sein.
Vom Anfang bis zum Ende seiner politischen Karriere war Tito nicht nur ein Manipulator und Lügner, sondern auch ein Verräter, verantwortlich sowohl für Auftragsmorde an engen Mitarbeitern, sogar an Freunden - als auch für die Massenhinrichtungen von Kriegsgefangenen in Bleiburg (Kärnten) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: ein ehrgeiziger, skrupelloser Mann, der vor kriminellen Geschäften nicht zurückschreckt. Simic beabsichtigt offensichtlich, Tito als Person zu diskreditieren und damit auch seine politischen Entscheidungen und Projekte. Weil das Buch auf Zitaten beruht, ist es für den gewöhnlichen Leser schwierig zu beurteilen, wie wahrheitsgetreu Simics Argumente sind. Seine Vertrauenswürdigkeit beruht auf der Vertrauenswürdigkeit seiner Quellen, die nur von Spezialisten, von Historikern, überprüft und beurteilt werden könnten.

Ich besuchte Brijuni mit einem Auslandskorrespondenten, der früher in Jugoslawien gearbeitet hatte. Während wir Veli Brijun besichtigten, sprachen wir über Ausstellung und Buch: zwei völlig gegensätzliche Zugänge zu Titos Person. Mein Begleiter fragte mich, warum es, nachdem Tausende Bücher über ihn geschrieben worden seien, keine sorgfältig recherchierte, zuverlässige Biographie zu Tito gebe? Eine Frage, auf die es viele Antworten gibt, nur keine überzeugenden. Manche sagen, es habe keine Zeit gegeben, um eine Biographie zu schreiben, weil das Land in seinen Kriegen auseinanderfiel. Andere meinen, dass es auf dem Balkan fast unmöglich sei, eine klare, sachlich begründete Haltung gegenüber der Vergangenheit einzunehmen.
Aber sei nicht dennoch - fragte mein Begleiter weiter - dreißig Jahre nach seinem Tod die Zeit für eine seriöse Biographie gekommen? Ich konnte nur zustimmen. Oft haben wir gehört, dass „es zu viel Geschichte auf dem Balkan" gebe. Das stimmt zwar, aber nur im Sinn von historischen Ereignissen, nicht im Sinn von Geschichte als Wissenschaft. Tito aber verdient eine ernsthafte Betrachtung. Wir schulden sie ihm als einer historischen Persönlichkeit, aber noch viel mehr uns selber.
Während wir am Festland noch auf ein Boot warteten, das uns am Nachmittag nach Brijuni bringen sollte, ging der kroatische Präsident Stipe Mesic zusammen mit ein paar Bodyguards im kleinen Hafen von Fazana von Bord. Die ungefähr dreißig Touristen und die Einheimischen, die, auf das Boot wartend, am Pier standen, reagierten nicht, als der Präsident am Wasser entlang zu seinem Auto spazierte. Mein Begleiter war von dem gelassenen Verhalten des Präsidenten beeindruckt. Ganz offensichtlich hatten sich die Zeiten verändert, nicht aber unsere Einstellung gegenüber der Geschichte, von der wir offenbar immer noch glauben, sie bestehe aus einer Mischung aus Legenden und Verbrecherstorys.
Das Wetter war traumhaft schön, als wir die Inseln besuchten. Am Ende wollte ich schwimmen, in einer Bucht, in der noch die Ruinen einer römischen Villa aus dem ersten Jahrhundert vor Christus und eines Tempels der Liebesgöttin Aphrodite stehen. Der Legende nach wird man die große Liebe finden, wenn man an dem Tempel vorbeischwimmt. Aber ich schwamm nicht. Ich wagte es nicht. Man soll nicht zu viel vom Leben verlangen, dachte ich. Obwohl das womöglich ein unpassender Gedanke ist auf einer Insel, auf der einst ein Mann nur mit den Fingern zu schnippen brauchte, damit ihm alle Wünsche erfüllt wurden. Traurig, dass dreißig Jahre nach dem 29. August 1979, dem Tag, an dem Tito diese Insel zum letzten Mal verließ, immer noch unklar ist, wer dieser Mann eigentlich war.

Slavenka Drakulic
Süddeutsche Zeitung 2. Sept. 2009














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