6.

Polyphem

Tags darauf startet Odysseus mit ein paar Getreuen zur Erkundung des Kyklopenlandes auf die andere Seite.
Es folgt eine der großartigen Abenteuergeschichten der Weltliteratur, die Alt und Jung begeistern. Am Schluss haben wir sogar Mitleid mit dem tumben Ungetüm, und sind zornig auf den überheblichen Odysseus...

Als wir das nahe Gestad' erreichten, sahen wir von ferne
Eine Felsenhöhl' am Meer in der Spitze des Landes,
Hochgewölbt und umschattet mit Lorbeerbäumen. Hier pflegten


Viele Ziegen und Schafe zu ruhen; aber umher war
Hoch ein Gehege gebaut von eingegrabenen Steinen,
Von erhabenen Fichten und himmelanwehenden Eichen.
Allda wohnt' auch ein Mann von Riesengröße, der einsam
Stets auf entlegene Weiden sie trieb und nimmer mit andern
Umging, sondern für sich auf arge Tücke bedacht war.
Zum Entsetzen erhob sich das Ungeheuer, wie keiner,
Welchen der Halm ernährt; er glich dem waldigen Gipfel
Hohen Felsengebirgs, der einsam vor allen emporragt.
Eilend befahl ich nun den übrigen lieben Gefährten,
An dem Gestade zu bleiben und unser Schiff zu bewahren,
Und ging selber mit zwölf der Tapfersten, die ich mir auskor,
Nahm auch einen ledernen Schlauch gefüllt mit dem dunklen Süßen Wein mit...
Süß und ungemischt, ein göttlich Getränk!
Damit füllt' ich den großen Schlauch, den Beutel mit Zehrung.
Denn mir ahnte schon im mutigen Herzen, wir würden
Einen Mann besuchen, mit großer Stärke gerüstet,
Grausam und ungerecht...
Und wir gingen hinein und besahen staunend die Höhle.
Alle Körbe strotzten von Käse; Lämmer und Zicklein
Drängten sich in den Ställen, und jede waren besonders
Eingesperrt: die Frühen allein, allein auch die Mittlern,
Und die zarten Späling' allein. Es schwammen in Molken
Alle Gefäße, die Wannen und Eimer, worinnen er melkte.
Anfangs baten mich zwar die Freunde mit dringenden Worten,
Nur von den Käsen zu nehmen und wegzuschleichen; dann wieder
Hurtig zu unserm Schiff' aus den Ställen die Lämmer und Zicklein
Wegzutreiben und über die salzigen Fluten zu steuern.
Aber ich hörte nicht drauf: (ach! hätt' ich's getan!) denn ich wollte
Selber ihn sehn...
Er trug eine mächtige Ladung
Trockenes Scheiterholz, das er zum Mahle gespaltet-,
Und in der Höhle stürzt' er es hin, da krachte der Felsen;

Und wir erschraken und flohn in den innersten Winkel der Höhle
Aber er trieb in die Kluft die fetten Ziegen und Schafe
Alle zur Melke herein; die Widder und bärtigen Böcke
Ließ er draußen zurück in des Vorhofs tiefem Gehege.
Hochauf schwang er und setzte den mächtigen Block vor den Eingang,
Fürchterlich groß! die Gespanne von zweiundzwanzig starken
Und vierrädrigen Wagen, sie schleppten ihn nicht von der Stelle,
jenen gewaltigen Fels, den das Ungeheuer emporhob.
Setzte sich drauf und melkte die Schafe und meckernden Ziegen
Alles, wie es der Brauch, und die Säuglinge legt' er ans Euter.
Ließ von der weißen Milch die Hälfte gerinnen und setzte
Sie zum Trocknen hinweg in dichtgeflochtenen Körben,
Und die andere Hälfte verwahrt' er in weiten Gefäßen.
Machte er Feuer an und sah uns stehen und fragte:
Fremdlinge, sagt, wer seid ihr? Von wannen trägt euch die Woge?
Habt ihr wo ein Geschäft, oder kreuzt ihr ohne Bestimmung
Hin und her auf der See, wie landumirrende Räuber,

Die das Leben wagen, um bei den Fremden zu plündern?
Also sprach der Kyklop. Uns brach das Herz vor Entsetzen
Über das rauhe Gebrüll und das schreckliche Ungeheuer.
Dennoch ermannt' ich mich und gab ihm dieses zur Antwort:
Griechen sind wir und kommen von Trojas fernem Gestade,
Über das große Meer von mancherlei Stürmen geschleudert,
Als wir ins Vaterland hinsteuerten; andere Fahrten,
Andere Bahnen verhängt' uns Kronions waltende Vorsicht!
Siehe, wir preisen uns Völker von Atreus' Sohn Agamemnon,
Welchen der größte Ruhm jetzt unter dem Himmel verherrlicht,
Weil er die mächtige Stadt und so viele Völker vertilgt hat!
Wir aber nahen jetzt deinen Knieen und flehen in Demut:
Reich' uns eine geringe Bewirtung oder ein andres
Kleines Geschenk, wie man gewöhnlich den Fremdlingen anbeut!
Scheue, Starker, die Götter! Wir Armen flehn dir um Hilfe!
Und ein Rächer ist Zeus den hilfeflehenden Fremden,
Zeus, der gastliche, welcher ehrwürdige Gäste geleitet!
...drauf versetzte der grausame Wütrich:
Sage mir an: wo bist du mit deinem Schiffe gelandet?
irgendwo in der Fern' oder nahe? damit ich es wisse!
Eilend erwidert' ich ihm die schlauersonnenen Worte.
Ach, mein Schiff hat mir der Erderschüttrer Poseidon
An den Klippen zerschmettert; er warf's an das schroffe Gestade
Eures Landes, da es der Sturm aus dem Meere verfolgte!
... der grausame Wütrich
fuhr auf und streckte nach meinen Gefährten die Hand aus,
Deren er zweie griff und wie junge Hunde auf den Boden
Schmetterte: blutig entspritzt' ihr Gehirn und netzte den Boden.
Dann zerstückt' er sie Glied für Glied und tischte den Schmaus auf,
Schluckte darein wie ein Leu des Felsengebirgs und verschmähte
Weder Eingeweide, noch Fleisch, noch die markigen Knochen.
Doch kaum hatte den mächtigen Bauch sich gefüllt der Kyklope
Mit dem Fraße von Menschenfleisch und dem lauteren Milchtrunk,
Lag er schon da, lang hingestreckt bei dem Vieh in der Höhle.
jetzt erwog ich zuerst in meinem mutigen Herzen:
Näher zu gehn, das geschfiffene Schwert von der Hüfte zu reißen
Und ihm dieBrust zu durchbohren, wo Zwerchfell und Leber sich treffen
Mit nachstoßender Faust; doch ein andrer Gedanke verdrängt' ihn.
Denn so hätt' ich uns selbst dem schrecklichen Tode geopfert;
Unsere Hände vermochten ja nicht, von dem Tore der Höhle
Abzuwälzen den mächtigen Fels, den der Riese davorschob...
Zum Frühstück verspeist der Kyklop wiederum zwei Gefährten und
weidet, nachdem er die Höhle verschlossen, seine Tiere.
Odysseus hat eine Plan. Er sucht sich einen Knüppel...



Und am Abende kam er mit seiner gemästeten Herde
Und trieb schnell in die weite Kluft die Ziegen und Schafe,
Mütter und Böcke zugleich, und ließ nichts draußen im Vorhof,
Weil er etwas besorgte; vielleicht auch fügt' es ein Gott so.
...Aber da trat ich näher und sagte zu dem Kyklopen,



Einen hölzernen Napf des dunklen Weins in den Händen -
Nimm, Kyklop, und trink eins; auf Menschenfleisch ist der Wein gut!
Daß du siehst, welch göttlichen Trunk wir hatten im Schiffe!
Diesen rettet' ich dir zum Opfer, damit du erbarmend
Heim mich sendetest. Aber du wütest ja ganz unerträglich!
Böser Mann, wer wird dich hinfort von den Erdebewohnern
Wieder besuchen wollen? Du hast nicht billig gehandelt!"
Also sprach ich. Er nahm und trank, und schmeckte gewaltig
Nach dem süßen Getränk und bat, noch einmal zu füllen:
"Lieber, schenk mir noch eins und sage mir gleich, wie du heißest
Daß ich dich wieder bewirt', und deine Seele sich labe!
Wiss', auch uns Kyklopen gebiert die fruchtbare Erde
Wein in schweren Trauben, und Gottes Regen ernährt ihn
Aber der ist ein Saft von Arnbrosia oder von Nektar!"
Also sprach er; ich bracht' ihm von neuem des funkelnden Weines.
Dreimal schenkt' ich ihm voll, und dreimal leerte der Dumme.
"N i e m a n d ist mein Name; denn Niemand nennen mich alle,
Meine Mutter, mein Vater und alle meine Gesellen."
Also sprach ich, und drauf versetzte der grausame Wüttich:
"Niemand will ich zuletzt nach seinen Gesellen verzehren;
Alle die andern zuvor! Dies sei die verheißne Bewirtung!"
Sprach's und taumelte rücklings hin und lag mit gesenktem
Dickem Nacken im Staub, und der allgewaltige Schlummer
Überwältigte ihn.



Und wir faßten den spitzen Olivenknüttel und stießen
Ihn dem Kyklopen ins Aug', und ich, in die Höhe mich reckend,
Drehte. Wie wenn ein Mann, den Bohrer lenkend, ein Schiffsholz
Bohrt; die Unteren ziehen an beiden Enden des Riemens,
Wirbeln ihn hin und her, und er fliegt in dringender Eile;
Also stießen auch wir in das Auge den glühenden Knüttel,
Drehten, und heißes Blut umquoll die dringende Spitze.
Alle Wimpern und Augenborsten versengte die Lohe
In dem brennenden Aug', und es brannte aus mit der Wurzel.
Wie wenn ein kluger Schmied die Holzaxt oder das Schlichtbeil
Aus der Ess' in den kühlenden Trog, der sprudelnd einporbraust,
Wirft und härtet; denn das erneut die Kräfte des Eisens;
Also zischte das Aug' um die feurige Spitze des Ölbrands.
Fürchterlich heult' er auf, daß rings die dumpfige Kluft scholl.
Und wir erschraken und flohn in den innersten Winkel. Doch jener
Riß aus dem Auge den Pfahl, von triefendem Blute besudelt,
Schleuderte weit ihn weg mit den Händen und tobte vor Schmerzen.
Und nun ruft' er mit Zetergebrüll den andern Kyklopen
Welche ringsum die Klüfte des stürmischen Felsens bewohnten.
Und sie vernahmen das Brüllen und drängten sich dorther und daher
Standen rund um die Höhle und fragten, was ihn betrübte:
"Was geschah dir für Leid, Polyphemos, daß du so brülltest
Durch die ambrosische Nacht und uns vom Schlummer erwecktest?
Raubt der Sterblichen einer dir deine Ziegen und Schafe?
Oder würgt man dich selbst, arglistig oder gewaltsam?"
Ihnen erwiderte drauf aus der Felsenkluft Polyphemos:
" Niemand würgt mich, ihr Freund', arglistig! und keiner gewaltsam!"
Drauf antworteten sie und schrien die geflügelten Worte:
"Wenn dir denn keiner Gewalt antut in der einsamen Höhle:
Gegen Schmerzen, die Zeus dir schickt, ist kein anderes Mittel:
Flehe zu deinem Vater, dem Meerbeherrscher Poseidon!"
Also schrien sie und gingen...
Tappte der blinde Kyklop und nahm den Stein von der Pforte,
Setzte sich dann in die Pforte mit ausgebreiteten Händen,
Tastend, ob nicht vielleicht mit den Schafen einer entwischte...



Widder waren da mit dickem Vließ und gemästet,
Groß und stattlich an Wuchs, mit dunkelfarbiger Wolle,
Diese band ich geheim mit schwanken Ruten zusammen,
Drauf der Kyklope schlief, das gottlose Ungeheuer;
Drei und drei: der mittelste Bock trug einen der Männer,
Zwei gingen nebenher und schirmten meine Gefährten.
Also trugen jeglichen Mann drei Widder. Ich selber
Wählte mir einen Bock, den trefflichsten unter der Herde.
Diesen ergriff ich schnell beim Rücken, wälzte mich nieder
Unter den wolligen Bauch, und fest in die Büschel des Vließes
Hielt ich die Hände gedreht und hing geduldigen Herzens.
Als nun Eos mit rosigen Fingern am Morgen emporstieg,
Sprangen nacheinander die Widder und Böcke zur Weide.
Aber es blökten im Stalle die ungemelkten Mütter,



Denn die Euter strotzten von Milch. Der grausame Wütrich
Saß von Schmerzen gefoltert und tastete sorgsam die Rücken
Aller steigenden Widder und ahnte nicht in der Dummheit,
Daß ich sie unter den Bauch der woffigen Böcke gebunden.
Als der letzte der Herde schritt mein Widder zum Ausgang,
Schwerbeladen mit Wolle und mir, der mancherlei dachte.
Streichelnd betastet' auch ihn das Ungeheuer und sagte:
Süßes Böckchen, wie geht's? Du kommst zuletzt aus der Höhle?
Ei, du pflegst mir ja sonst nicht hinter der Herde zu bleiben!
Trabst ja so hurtig voran und pflückst dir zuerst auf der Weide
und Blumen und eilst zuerst ans Wasser der Bäche,
Trachtest auch immer zuerst in den Stall zu kommen des Abends!
Nun der letzte von allen? Ach, geht dir etwa das Auge
Deines Herrn so nah? Der Bösewicht hat mir's entrissen,
Er samt seinem Gesindel, indem er mit Wein mich berauschte,
Niemand! Ich mein', er ist mir noch nicht dem Verderben entronnen!
Hättest du nur Gedanken wie ich und verstündest die Sprache,
Daß du mir sagtest, wo jener vor meiner Stärke sich hinbirgt!
Ha! auf den Boden geschmettert, wie sollte sein Hirn durch die Höhle
Hierhin und dahin zersprizten! Wie würde mein Herz von dem Jammer
Sich erleichtern, den der Verruchte mir brachte, der Niemand!
Also sprach der Kyklop und ließ den Widder hinausgehn.



Vom Boot aus ruft später Odysseus:
"Ha, Kyklope, so recht! Nicht eines Feigen Gefährten
Fraßest du auf in der dunkeln Höhle, wütiger Riese!
Lange hattest du das mit deinem Frevel verschuldet!
Schändlicher, der du im eigenen Haus deine Gäste hinabschlangst,
Ruchlos! So nun straften dich Zeus und die übrigen Götter!"
Noch wütender tobte der blinde Kyklope,
Riß herunter und warf den Gipfel des hohen Gebirges.
Aber er fiel jenseits des schwarzgeschnäbehen Schiffes
Nieder, und wenig gefehlt, so traf er die Spitze des Steuers.
Hochauf wogte das Meer von dem stürzenden Felsen, und plötzlich
Raffte mit Ungestüm der strudelnde Schwall der Gewässer,
Landwärts flutend, das Schiff und warf es zurück an das Ufer.
Aber ich nahm mit den Händen geschwind eine mächtige Stange,
Stieß es vom Land und trieb und ermahnte meine Gefährten,
Hurtig die Ruder zu regen, daß wir dem Verderben entrönnen,
Mit zu nickendem Haupt; und sie stürzten sich auf die Ruder.
Als wir nun doppelt so weit in das hohe Meer uns gerettet,
Siehe, da rief ich von neuem dem Wüterich...
Waghals! willst du noch mehr den grausamen Riesen erbittern,
Welcher mit seinem Geschoß in die See hinspielet und eben
Wieder ans Ufer uns warf, wo Tod und Verderben uns drohte?
Hätt' er von dir nur ein Wort, nur deine Stimme vernommen,
Wahrlich, mit einem geschleuderten Fels hätt' er unsere Schädel
Samt den Balken des Schiffes zerschellt! Er versteht sich aufs Schleudern.
Und noch einmal begann ich und rief mit grimmigem Mute:
Hör', Kyklope! Sollte dich einst von den sterblichen Menschen
Einer fragen, wer dir dein Auge so schändlich geblendet,
Sag' ihm: Odysseus, der Sohn Laertes',
Der in Ithaka wohnt, der hat mein Auge geblendet!"
Da hob er zum Sterngewölbe des Himmels
Seine Hände, flehend dem Meerbeherrscher Poseidon:
Hör' mich, Poseidon, Erdumfasser, Finstergelockter!
Bin ich wahrlich dein Sohn, und nennst du rühmend dich Vater!
Gib, daß Odysseus, der Sohn Laertes', der Städteverwüster,
Der in Ithaka wohnt, nicht wiederkehre zur Heimat!
Oder ward ihm bestimmt, die Freunde wiederzusehen
Und sein prächtiges Haus und seiner Väter Gefilde,
Laß ihn spät, unglücklich und ohne Gefährten, zur Heimat
Kehren auf fremdem Schiff'und Elend finden im Hause!


Das Gebet sollte in Erfüllung gehen.



In Trapani zeigen noch heute Hirten die Höhle des Polyphem und die meisten Altertumsforscher geben den Sizilianern recht, wenn sie meinen, die geschleuderten Felsen des Polyphem seien die Lavaausbrüche von Stromboli und Ätna.



Bei Catania heißen Vulkanfels-Inseln auch "Inseln der Kyklopen". Was Wahres ist sicher dran an der Geschichte: aus dem Text selbst ergibt sich nicht, daß der Kyklop ("Rundauge") - wahrscheinlich von hünenhafter Gestalt - einäugig war - das ist eine Erfindung der romantischen Maler, die Griechen bildeten ihn immer zweiäugig ab.
(Das Wort "Niemand" ist übrigens ein Wortspiel mit seinem Namen "Odysseus": "Oudeis" bedeutet im Griechischen "niemand"...)