Stellers Rückweg und Ende





Sechs Jahre dauerte es,
bis die Überlebenden der Expedition
Order erhielten,
in die Hauptstadt zurückzukommen.
Steller aber hatte sich wenige Tage
nach Ankunft in der


Bucht von Avatscha

vom Korps abgesetzt und war mit dem Kosacken Lepekhin
zu Fuß ins Innere der Halbinsel aufgebrochen.



Den übrigen Teil des Sommers
sammelt Steller botanisches Material,
füllt getrocknete Samen in Tütchen,
beschreibt, rubriziert, zeichnet,
in seinem schwarzen Reisezelt sitzend,
zum erstenmal glücklich in seinem Leben.
Thoma Lepekhin fängt Lachs,
bringt Pilze, Beeren und Blätter,
macht Feuer und Tee.











Den Winter hindurch
unterrichtet der deutsche Doktor
Koryackenkinder in einer winzigen,
hölzernen Schule, schreibt,
als das Eis bricht,
Memoranda zur Verteidigung
der von der Marinekommandantur in Bolscheretsk
malträtierten und in ihrem Recht verkürzten
eingeborenen Stämme, was dazu führt,
daß ein Brief gegen ihn ausgestellt wird,
daß Verhöre stattfinden,
daß sich Mißverständnisse ergeben,
daß Verhaftungen erfolgen und daß Steller
jetzt vollends den Unterschied begreift
zwischen Natur und Gesellschaft.
Westwärts, Strecke um Strecke legt er
fliehend zurück, und es scheint ihm,
als gehe nun alles bergab.



Erst in Tara erreicht ihn die Nachricht,
er könne auf jedem beliebigem Weg
aufbrechen in seine Heimat.
Steller mietet drei Pferde,
fährt nach Tobolsk und trinkt dort,
er, der nie trank, ganze drei Tage.
Danach kommt das Fieber,
er kriecht in den Schlitten,
heißt den Tataren weiterfahren nach Süden,
die einhundertsiebzig Meilen bis Tyumen.




Manuskripte am Ende des Lebens,
geschrieben auf einer Insel im Eismeer,
mit kratzendem Gänsekiel und galliger Tinte,
Verzeichnisse von zweihundertelf verschiedenen Pflanzen,
Geschichten von weißen Raben,
seltsamen Kormoranen und Seekühen,
eingebracht in den Staub einer endlosen Registratur,
sein zoologisches Meisterwerk, de bestiis marinis,
Reiseprogramm für die Jäger,
Leitfaden beim Zählen der Pelze,
nein, nicht hoch genug
war der Norden.
In Tyumen holen sie ihn aus dem Schlitten,
schleppen sie seinen zur Hälfte versteinerten Leib
aus dem Eis hinein in das Feuer,
in ein waberndes Haus.
... Pallas berichtet, wie sie Steller,
den er verehrte, anderen Tages,
in seinen roten Umhang gehüllt,
ein gutes Stück außerhalb der Raststatt
der Rechtgläubigen in einen engen Graben
hoch über dem Ufer der Tura legten
und einen Hügel aufwarfen von gefrorenen Wasen.

W.G. Sebald: Nach der Natur


Kamtschatka heute:









Im russischen Sprachgebrauch bedeutet „Kamtschatka“ so viel wie „Eselsbank“ oder „am Arsch der Welt“, zu weit weg ist die Halbinsel, als dass es jemanden interessieren würde - auch die Menschen in Russland selbst -, was dort los ist und wo diese Region überhaupt liegt.
Bei dem Wort denkt man in Russland und im postsowjetischen Raum am ehesten an den Song "Kamtschatka" von 1984 des Songwriters und Frontmanns der Wave-Postpunk-Gruppe Kino, Wiktor Zoi, der 1990 unter mysteriösen Umständen tödlich verunglückt, der russische Jim Morisson ... -->











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